Karl-Heim-Preis 2009/2010


Karl-Heim-Preis 2009/2010 verliehen
Der diesjährige Empfänger des mit 1000,- Euro dotierten Karl-Heim-Preises ist die Theologin Dr. Rebekka Klein (Heidelberg). Sie wurde am 30. Januar 2009 am Fachbereich Theologie der Universität Zürich promoviert. Von 2005-2008 arbeitete sie als Forschungsassistentin am UFSP (=Universitärer Forschungsschwerpunkt) Ethik zu "Grundlagen menschlichen Sozialverhaltens" der Universität Zürich.

Die Verleihung des Karl-Heim-Preises wird im Rahmen der Jahrestagung vom 22. Oktober bis 24. Oktober 2010 in Bad Urach stattfinden. Der Karl-Heim-Preis wird von der Karl-Heim-Gesellschaft (www.karl-heim-gesellschaft.de) zweijährlich für herausragende Dissertationen oder Habilitationen im Spannungsfeld von Naturwissenschaft und christlichem Glauben vergeben.

Zusammenfassung der Dissertation

Die Sozialität gilt seit der Antike als eine Grundbedingung des Menschseins. Denn bereits Aristoteles redete vom Menschen als einem zoon politikon. Doch was verstehen wir gegenwärtig unter Sozialität? Welchen Beitrag können aktuelle Untersuchungen zum Altruismus und zur Prosozialität in der empirischen Wirtschaftsforschung und Neurobiologie zu dem philosophisch und theologisch geprägten Diskurs über die Humanität und Sozialität des Menschen leisten? Um diesen Fragen nachzugehen, werden in der Dissertation neuere Experimente zum menschlichen Sozialverhalten in der Ökonomik und Neurobiologie sowie sozialphilosophische Konzepte der zwischenmenschlichen Beziehung analysiert. Das christliche Verständnis der Sozialität wird am Beispiel der Gottes- und Nächstenliebe und ihrer sozialkritischen Hermeneutik in die Untersuchung mit einbezogen. Im Gespräch mit den einzelnen Disziplinen wird jeweils aufgezeigt, dass ein Rekurs auf die Sozialität des Menschen gegenüber den Phänomenen sozialer Unmenschlichkeit nicht gleichgültig sein darf: Von der gewaltsamen Vernichtung bis zur Verantwortung für den anderen reicht der Spielraum des menschlichen Sozialverhaltens. Sozialität wird deshalb nicht als Fundament von Moral und politischer Ordnung, sondern als ein Phänomen in zweifacher Gestalt behandelt. Das grundlegende Argument der hier entworfenen Sozialanthropologie lautet: Die Humanität des Menschen ist stets so zu thematisieren, dass sich die anthropologische Beschreibung auch für ihre Kehrseite, die soziale Inhumanität des Menschen sensibel zeigt und gegenüber den Phänomenen des Inhumanen nicht gleichgültig bleibt.

Detaillierte Darstellung der einzelnen Kapitel:

1. Anthropologische Beschreibung als Darstellung der Humanität des Menschen

Was die Humanität des Menschen auszeichnet und inwiefern sie hermeneutisch und phänomenologisch untersucht werden kann, will das erste Kapitel dieser Untersuchung klären. Dazu orientiert es sich an den Fragestellungen der philosophischen und theologischen Anthropologie. Denn ihre Begriffe, Konzepte und Theorien bestimmen auch die Hypothesenbildung und die Interpretation von Forschungsergebnissen in den empirischen Wissenschaften. In der philosophischen Anthropologie sind die meisten Begriffe des Menschen durch einen Essentialismus bestimmt. Durch sie soll die Natur oder das Wesen des Menschen festgelegt werden. Auch Definitionen wie diejenige des animal rationale versuchen, das Wesentliche des Menschseins mit einem Attribut seiner Natur (Vernunft, Sprache, Willensfreiheit) zu identifizieren. Die diesen anthropologischen Bestimmungen zugrunde liegenden Unterscheidungen des Menschlichen vom Nicht-Menschlichen lassen sich aber auch analytisch verstehen und anwenden. Um hier zu Klärungen zu kommen, werden deshalb verschiedene Leitdifferenzen der Anthropologie herausgearbeitet, mit denen die Humanität des Menschen konzeptualisiert werden kann. Neben der Unterscheidung der Humanität des Menschen von der Animalität des Tieres und von der Göttlichkeit einer Gottheit wird die Differenz von Humanität und Inhumanität, die an den Phänomenen des menschlichen Zusammenlebens selbst aufbricht, ins Zentrum des Fragens gestellt. Obwohl das Wort ‚Unmenschlichkeit‘ formal als Negation der Humanität des Menschen gefasst werden kann, ist mit dem Unmenschlichen hier doch etwas anderes gemeint. Es bezeichnet diejenige zerstörerische Gewalt gegen den Mitmenschen, die das menschliche Maß überschreitet und doch am Ort des Menschen selbst bezeugt ist. Sie verhält sich damit nicht negierend, sondern indifferent zu der für jeden Menschen postulierten Humanität seines Wesens. Erst wo Unmenschliches auch in der Beschreibung des Menschlichen mit adressiert werden kann, ist daher die Differenz von Humanität und Inhumanität gewahrt.

2. Der soziale Konflikt zwischen Egoismus und Altruismus in der menschlichen Interaktion

Im Zentrum der ökonomischen Beschreibung der menschlichen Sozialität steht der Konflikt zwischen egoistischen und altruistischen Individuen. Das zweite Kapitel thematisiert daher die Modellierung von Pro- und Antisozialität des Menschen in der experimentellen Ökonomik. Dazu wird zuerst eine wissenschaftstheoretische Einordnung und Rekonstruktion des experimentellen Ansatzes innerhalb der Wirtschaftswissenschaften vorgelegt, die auch die Synthese der Ökonomik mit der Sozialen Neurowissenschaft (Neuroökonomik) in den Blick nimmt. Es wird kritisch aufgezeigt, dass die experimentelle Methode der Ökonomik die Intentionen und Motive der sozialen Akteure sowie ihr intersubjektives Kommunikations- und Ausdrucksverhalten bewusst ausblendet, wenn sie deren soziale Präferenzen bestimmt. Zugleich macht diese Methode aber die Wirkungsweise sozialer Präferenzen im Verhalten beschreibbar und leistet einen entscheidenden Beitrag dazu, das Menschenbild der Wirtschaftswissenschaften, das von einem egoistischen Nutzenmaximierer ausgeht, zu reformieren. Um diesen Punkt deutlich zu machen, werden die Forschungsergebnisse der Ökonomik zur Ungleichheitsaversion und Fairnesspräferenz ökonomischer Akteure, zur Bildung und Sanktionierung von sozialen Normen und zum altruistischen Bestrafen von Normenverletzern vorgestellt.

3. Die zwischenmenschliche Differenz als Antagonismus, Anerkennung und Alterität

Das dritte Kapitel setzt mit Thomas Hobbes’ provozierender Einsicht in die unsoziale Wesensnatur des Menschen ein, welche die moderne Sozialanthropologie geprägt hat. Ausgehend von Hobbes’ Zurückweisung der Sichtweise, dass die Sozialität des Menschen ein integraler Bestandteil der Conditio Humana sei, gibt das Kapitel einen Überblick über verschiedene Ansätze zum Verständnis der menschlichen Sozialität in der gegenwärtigen Sozialphilosophie und Ethik. Die Sozialität des Menschen wird hier im Anschluss an Hobbes sowohl in ihrer positiven als auch in ihrer negativen Gestalt zur Grundlage einer Gesellschaftstheorie gemacht. In der Sozialphilosophie wird die Beschreibung der Sozialität aber anders als in der Ökonomik nicht ausgehend vom Individuum und seinen Präferenzen, sondern durch eine phänomenologische Analyse des zwischenmenschlichen Verhältnisses geleistet. Dieses zwischenmenschliche Verhältnis ist gekennzeichnet durch die Pluralität und Heterogenität der Menschen, die sich konzeptionell als Differenz des einen zum anderen fassen lässt. Diese zwischenmenschliche Differenz wird von den einzelnen Ansätzen der Sozialphilosophie zum Ausgangspunkt für ganz unterschiedliche Konstellationen der sozialen Beziehung zwischen Menschen gemacht. Sie ist entweder Ausgangspunkt der unversöhnlichen Konfrontation und Verfeindung zwischen Menschen (Antagonismus) oder Ausgangspunkt einer Befriedung von Differenz und Konflikt in der wechselseitigen Anerkennung oder sie markiert die ursprüngliche Möglichkeit einer Verantwortungsübernahme des einen für den anderen (Alterität).

4. Die Spannung von alter und neuer Existenz in der christlichen Nächstenliebe

Im vierten Kapitel wird die kritisch-hermeneutische Funktion der christlichen Nächstenliebe für das Verständnis der Sozialität aus theologischer Perspektive entfaltet. Die theologische Perspektive zeichnet sich gegenüber anderen Perspektiven dadurch aus, dass in ihr durch das Wort ‚Gott’ die Perspektivität des eigenen Zugangs und die Kontingenz ihrer Beschreibungen explizit deutlich gemacht und daher in der Differenz zu anderen Perspektiven thematisiert werden kann. Im Anschluss an das biblische Zeugnis von der Nächstenliebe in seiner zweifachen Gestalt (Gebot und Narration) und die Liebesanalysen Sören Kierkegaards wird deshalb gefragt, inwiefern die Rede vom (anderen) Menschen als einem Nächsten Gottes eine eigene Beschreibung der menschlichen Sozialität nahe legt. Bei Kierkegaard wird das biblische Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe in eine phänomenologische Hermeneutik der menschlichen Sozialverhältnisse überführt. Diese fasst die Humanität der sozialen Beziehung als phänomenalen Überschuss der zwischenmenschlichen Liebesverhältnisse, der an diesen erst in der kritischen Unterscheidung von Selbstliebe und Nächstenliebe sichtbar wird. Die theologische Perspektive auf Sozialität wird dieses Phänomen daher immer von seiner Ambivalenz, von seiner Zweideutigkeit her verstehen. Dies entspricht auch der zweifachen Perspektive der theologischen Anthropologie, welche das Menschsein als Revision der alten im Licht einer neuen Existenz beschreibt, die sich mit der Einsicht des Glaubens einstellt. Erst in der Analyse dieser Gott gewirkten Revision im Selbstverhältnis des Menschen wird deutlich, inwiefern die soziale Ambivalenz der zwischenmenschlichen Begegnung in theologischer Perspektive stets vor einer Indifferenz von Humanität und Inhumanität bewahrt bleibt.