Wolfgang Weidlich: Komplexe Systeme und Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft


Kurze Gliederung des Vortrags

1. Zur Definition von "komplexen Systemen"

Komplexe Systeme sind kompliziert zusammengesetzte Gebilde mit einer "Mikroebene" und einer "Makroebene", evtl. auch mit "Mesoebenen". Zwischen ihren Komponenten bestehen "direkte" und "indirekte" Wechselwirkungen. Diese bewirken, daß ein System nicht nur eine "Menge von Elementen" ist, sondern daß "das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile". Nur auf der Systemebene gibt es die "Emergenz neuer Eigenschaften", ferner die Phänomene von Strukturerhaltung sowie Strukturumschlag.

2. Zum Begriff der "Selbstorganisation"

In einem komplexen System entstehen räumliche, zeitliche und funktionale Strukturen auf Grund der Art der immanenten Wechselwirkungen zwischen den Komponenten, aber nicht durch spezifische Anfangsbedingungen oder durch spezifische Eingriffe.

Selbstorganisation setzt einerseits grundlegende Gesetzmäßigkeiten im System voraus, bedeutet andererseits ein gewisses "Sich selbst Überlassensein" des Systems, so daß sich dessen Eigen~dynamik "selbstorganisierend" entwickeln kann. Auch die "Emergenz neuer Eigenschaften auf Systemebene" geschieht auf Grund von Selbstorganisationsprozessen.

3. Synergetik

Die von H. Haken begründete Synergetik (d. h. Lehre vom Zusammenwirken) beschäftigt sich mit der Entstehungsweise von räumlichen, zeitlichen und funktionalen Makrostrukturen in Systemen und entwickelt einen mathematischen Algorithmus dafür, sofern grundlegende Mikrogleichungen existieren.

Wesentliches Ergebnis der Synergetik: Selbst bei komplexen Systemen beherrschen oft wenige Ordnungsparameter deren Entwicklung auf der Makroebene. Ganz verschiedenartig zusammengesetzte Systeme werden dadurch strukturell vergleichbar. Beispiele wie der Laser, das Benard-System, biologische Praemorphologie können dies illustrieren.

4. Soziodynamik

Die Soziodynamik beschäftigt sich mit dynamischen Prozessen in dem Multikomponenten~system der menschlichen Gesellschaft. Insofern ist sie ein Teilgebiet der Synergetik.

Allerdings gibt es a) keine Grundgleichungen des Verhaltens von Individuen, und es muß b) das menschliche Entscheidungsverhalten systematisch eingebaut werden (durch nutzengesteuerte probabilistische Übergangsraten). Andererseits zeigen sich auf der Makroebene im Sinne der Synergetik viele Strukturähnlichkeiten zwischen Systemen aus Natur und Gesellschaft.

5. Eigenschaften der Ordnungsparameterdynamik

Die in Synergetik und Soziodynamik behandelte Dynamik der Ordnungsparameter, also der makroskopisch dominanten Variablen, hat einige charakteristische Eigenschaften. Einige davon sind:

a) die Nichtlinearität (Wirkungen sind nicht immer proportional zu den Ursachen.)

b) die Zyklizität der Kopplung (von gewissen Ursachen erzeugte Wirkungen wirken auf die Ursachen zurück.)

c) die Entstehung von Phasenübergängen, d. h. von globalen Änderungen des gesamten dynamischen Systemverhaltens. Solche Phasenübergänge sind notwendigerweise von kritischen Fluktuationen der Ordnungsparameter begleitet. Beispiele aus Natur und Gesellschaft werden dies illustrieren.

6. Theologische Implikationen

In Bezug auf einige grundlegende theologische Fragen können diese Ergebnisse zu neuen Sichtweisen führen. Einige Probleme seien genannt:

  • Determinismus (Vorausbestimmung) oder Offenheit der mit Selbstorganisationsstrukturen ausgestatteten Schöpfung?
  • Creatio continua oder Creatio subita?
  • Worin besteht die "analogia entis"?