Karl-Heim-Gesellschaft: Jahrestagung 2003

Peter Schüll:
Von der Risiko- zur Spaßgesellschaft?
Soziologische Gegenwartsanalysen im Zeichen von Individualisierung und Wertewandel


Soziologen sind selten verlegen, wenn es darum geht, die Ergebnisse Ihrer zeitdiagnostischen Analysen auf den Begriff zu bringen. Sie sprechen von der „postindustriellen“ (A. Tourraine, D. Bell) ebenso wie von der „postmodernen Gesellschaft“ (Z. Bauman), von der „spätmodernen“ (J. Habermas) genauso wie von der „reflexiv modernen Gesellschaft“ (U. Beck). Wer in erster Linie ökonomisch denkt, preist die „neue Arbeitgesellschaft“ (G. Mutz), während andere Autoren schon deren Ende ausgerufen haben (J. Rifkin). Dass wir uns längst im Zeitalter der „Dienstleistungsgesellschaft“ befinden, ist bereits zum Allgemeinplatz geworden, ohne dass man sich dabei noch auf den soziologischen Urahn dieses Wortes, Jean Fourastié, beziehen müsste. Wer sozialstrukturelle oder Ungleichheitsrelationen auf den Begriff bringen will, greift heute nicht mehr auf die Termini von der „nivellierten Mittelstands-“ (H. Schelsky) und „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ zurück; aktuell ist vielmehr die „85%-Gesellschaft“ (R. Geißler) oder gar die „20:80-Gesellschaft“ (H.-P. Martin / H. Schumann). Und wer schließlich die vermeintlich dominanten Signaturen des gegenwärtigen Zeitalters etwas konkreter bezeichnen will, der stützt sich auf Wortungetüme wie „Risiko-“ (U. Beck), „Multioptions-“ (P. Gross) oder „Kommunikationsgesellschaft“ (R. Münch), spricht von der „Informations-“, „Wissens-“ oder „Netzwerkgesellschaft“ (M. Castells), oder streicht die schönen Seiten des Lebens mit den Vokabeln der „Spaß-“, „Erlebnis-“ (G. Schulze) oder „Freizeitgesellschaft“ (H. Opaschowski) hervor.

Derartige Catchwords suggerieren, dass die reale Komplexität innerhalb eines bestimmten Sozialraumes auf einen Hauptvergesellschaftungsmodus zurückgeführt werden kann, der die Sozialverhältnisse in diesem Raum im Vergleich zu früher und zu anderen Kulturräumen in dominanter Weise strukturiert. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich jedoch die meisten dieser zeitdiagnostischen Catchwords als Minitheorien mit begrenzter Reichweite. Sie bringen einen wesentlichen Zug einer - gegenüber früher veränderten - sozialen Realität zum Ausdruck, während sie gleichzeitig die Wirklichkeit anderer Sozialbereiche und die darin wirksamen Hauptintegrationsmuster systematisch ausblenden.

Lässt sich dann aber die Frage nach den dominanten Trends in der gesellschaftlichen Entwicklung Europas oder des Abendlandes überhaupt beantworten? Müsste diese Frage nicht mehrfach, für verschiedene abendländische „Gesellschaften“ wie auch für die verschiedenen Teilbereiche ein und derselben Gesellschaft getrennt gestellt werden? Ist die faktische Pluralität der Sozialverhältnisse nicht mittlerweile zu groß geworden, um generelle Trendaussagen machen zu können? Müssen wir nicht - gut luhmannianisch - die Grenzen stärker beachten, diejenigen zwischen den einzelnen „Gesellschaften“ bzw. Kulturen sowie diejenigen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen? Sollten wir unserem Ansinnen nach differenztilgenden Generalaussagen nicht endlich Einhalt gebieten und mit der postmodernen Forderung nach Achtung des Verschiedenen unseren Frieden machen?

Wer sein Sensorium für die „feinen Unterschiede“ (P. Bourdieu) nicht verlieren möchte, darf in der Tat die Augen vor der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit gerade der sozialen Welt nicht verschließen. Gleichwohl müssen wir in einer unübersichtlich gewordenen Welt Tag für Tag, von Minute zu Minute, handeln und Entscheidungen treffen. Um auch unter Zeit- und Erwartungsdruck handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben, müssen uns - um erneut mit Luhmann zu sprechen - komplexitätsreduzierte Informationen zur Verfügung stehen. Erst mit deren Hilfe können wir bewusste, weil wissensbasierte Entscheidungen treffen. Zu diesen handlungsnotwendigen Informationen gehört m.E. auch ein empirisch halbwegs abgesichertes Wissen um gegenwärtige gesellschaftliche Trends.

Ich möchte daher in meinem Vortrag trotz aller postmodernen Vorsichtswarnungen den Versuch unternehmen, einige Hauptlinien der sozialen Veränderungsprozesse im Abendland in den letzten Jahrzehnten zu skizzieren. Dabei laufe ich sehr wahrscheinlich einer doppelten Gefahr in die Arme: zum einen werde ich - in Missachtung der postmodernen Differenzemphase - aller Voraussicht nach viele feine Nuancen der gesellschaftlichen Entwicklung unter den Teppich einiger gesellschaftlicher Generaltrends kehren; und zum anderen gebe ich unter Umständen etwas als „neu“, „modern“ und „gegenwartstypisch“ aus, was in Wirklichkeit bereits früher anzutreffen war, jedoch bislang unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle soziologischer Beobachtung blieb. In einer am Subjekt ansetzenden, mikrosoziologischen Perspektive sind es vor allem zwei Prozesse, die das gesellschaftliche Leben in den vergangenen Jahrzehnten in den westlichen Ländern (und seit gut einem Jahrzehnt auch in den postkommunistischen Staaten) am nachhaltigsten verändert haben: Die Rede ist von den Prozessen, die gemeinhin als „Individualisierung“ und „Wertewandel“ bezeichnet werden. Im Vortrag sollen beide Begriffe hinreichend geklärt werden; ferner wird versucht, die damit verbundenen Thesen empirisch zu stützen. Dabei werde ich insbesondere auf amtliche Statistiken sowie auf Datenmaterial aus allgemeinen Bevölkerungsumfragen in Deutschland zurückgreifen, und hier insbesondere die Bereiche private Lebensformen, Religion und ehrenamtliches Engagement berücksichtigen.