Jürgen Schneider: Selbstorganisation
Phänomene -- Konzepte -- Perspektiven


A) Einleitung

Die physikalische Beschreibung der Natur hat eine reduktionistische Tendenz, das heißt, es handelt sich im Allgemeinen um eine Reduktion größerer Einheiten auf elementare Bestandteile (Zellen auf Moleküle, Moleküle auf Atome, Atome auf Elektronen und Kerne, usw.). Diese Vorgehensweise hat sich im Lauf der Geschichte der Naturwissenschaften als sehr fruchtbar erwiesen.

Daneben gab und gibt es allerdings auch holistische Ansätze der Naturbeschreibung, in denen das Zusammenwirken von Teilen eines Systems und ihre Organisationsprinzipien im Vordergrund der Betrachtung stehen. Die einzelnen Komponeneten sind eher unwichtig für das Verständnis. Ein typisches Beispiel dafür ist ein Organismus, der zwar auch durch die Summe seiner Komponenten, d.h. Zellen beschrieben werden kann, bei dem aber nur das Zusammenwirken der Teile eine adäquate Beschreibung liefert.

Eine Brücke zwischen holistischen und reduktionistischen Ansätzen zu bauen ist schwierig, da beide Sichtweisen von gegensätzlichen Positionen ausgehen. Während der Reduktionismus idealerweise Erklärungen in einer elementaren Schicht ohne Bezug zur Gesamtstruktur sucht, geht der Holismus den umgekehrten Weg; er geht vom geordneten (organisierten) Zusammenwirken in größeren Einheiten aus.

Läßt sich dieser Gegensatz durch die neuen physikalischen Ansätze der Selbstorganisation aufheben, wie es von manchen Autoren behauptet wird, und wenn ja, um welchen Preis?

B) Phänomene

Anfang des Jahrhunderts wurden Experimente von H. Benard an dünnen Flüssigkeitsschichten durchgeführt, die oberhalb einer festen Temperaturdifferenz zwischen Ober- und Unterseite spontan sehr regelmäßige Strömungen in Form eines Bienenwabenmusters (Hexagone) zeigten. Eine Erklärung dieser Strukturen gelang erst in den sechziger Jahren. Die Mechanismen, die zur Strukturbildung in Flüssigkeiten führen, zeigen, daß sich in komplexen Systemen fern vom Gleichgewichtszustand (unter bestimmten Umständen) kleine Schwankungen nichtlinear verstärken und zur Bildung räumlich-zeitlicher Strukturen führen können. Solche Systeme werden als selbstorganisierend bezeichnet.

Ähnliche Phänomene der spontanen Ausbildung von Ordnung werden in vielen anderen Bereichen beobachtet, so daß sich die Mechanismen, die bei der Strukturbildung in Flüssigkeiten eine Rolle spielen, z. B. bei chemischen Reaktionen (Belousov-Shabotinsky), Lasern (Synchronisation von Moden), der Bildung von Schleimpilzen, in ökologischen Systemen (Räuber-Beute-Beziehungen), ökonomischen Systemen, in der Beschreibung soziologischer Strukturen etc., wiederfinden.

Es entstehen in all diesen Systemen oberhalb einer gewissen Schwelle (kritischer Punkt) spontan Strukturen (räumlicher oder zeitlicher Art), die man nicht erwarten würde. Naturwissenschaftler wie der Nobelpreisträger Ilya Prigogine hoffen, diese "Kreativität der Natur", ihre strukturbildenden Mechanismen, unabhängig von den jeweiligen Systemkomponenten zu verstehen.

C) Konzepte

Wesentliches Element selbstorganisierender Systeme ist die Symmetriebrechung an sogenannten kritischen Punkten (Bifurkation). Es sind zwei "Lösungen" für den Strömungszustand möglich, von denen aber nur eine realisiert wird.

Bei dem beschriebenen Experiment mit einer dünnen Flüssigkeitsschicht ist der kritische Parameter die Temperaturdifferenz zwischen Ober- und Unterseite der Flüssigkeit. Oberhalb einer sogenannten kritischen Temperaturdifferenz entstehen spontan Strömungsmuster (Hexagone). Erhöht man die Temperaturdifferenz weiter, so kann ein zweiter kritischer Punkt erreicht werden, an dem sich wieder zwei mögliche Lösungen ergeben (2.Bifurkation). Die Art der zweiten Verzweigung kann davon abhängen, welchen "Weg" das System an der ersten Verzweigung durchlaufen hat.

Eine Wiederholung des Experiments kann bei gleichen makroskopischen Randbedingungen ein ganz anderes Strömungsmuster zeigen.

Das Verhalten des Systems ist somit von seiner (Vor-)Geschichte abhängig. Eine Vorhersage, welche Struktur sich im konkreten Fall nach dem Durchlaufen des Verzweigungspunktes ausbilden wird, ist daher nicht möglich.

Fazit: Nichtlineare Systeme enthalten ein Moment der Unvorhersagbarkeit und werfen ein neues Licht auf den Determinismus, da zufällige Schwankungen im mikroskopischen Bereich makroskopische Auswirkungen haben können.

D) Perspektiven

Es gibt heute zwei Haupttendenzen, eine einheitliche physikalische Beschreibung der Natur zu erreichen:

  1. Reduktion der Natur auf Symmetriegesetze und Elementarteilchen (fundamentale Strukturen, Feldgleichungen, Aussage: Selbstorganisation ist ein untergeordnetes Phänomen);

  2. Systemtheoretische Ansätze, die das Zusammenwirken der Komponenten betonen und dort nach fundamentalen Gesetzen suchen, die unabhängig von den Systemkomponenten sind (Amplitudengleichungen). Die Ableitung dieser Gleichungen aus den Systemeigenschaften ist für Benard-Zellen, Laser und andere "einfache" Systeme erfolgt. Bei anderen Systemen ist zwar die Analogie im Verhalten erkennbar, eine Ableitung der Parameter aus den Komponenten aber zu schwierig.
Die Brücke zwischen den reduktionistischen und holistischen Beschreibungen ist noch schmal, zeigt aber in der Tendenz an, daß spontane Strukturbildung keine Randerscheinung ist, sondern praktisch überall in der Natur eine Rolle spielt.

E) Relevanz der Selbstorganisation für das Weltbild

Nach Ilya Prigogine trägt die Physik nichtlinearer Strukturen dazu bei, die kartesische Spaltung zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden und den Weg zu einem "Dialog mit der Natur" freizumachen. Die Natur wird nicht mehr als starrer Mechanismus, sondern als kreativ gedacht (Selbstorganisation als kreativer Prozeß). Aufgrund der spontanen Entstehung von Neuem gibt es eine "Geschichte der Natur".

Die Natur als kreativ, selbstorganisierend und geschichtlich zu sehen, macht sie weniger fremd. "Geist erscheint als eine Selbstorganisationsdynamik auf vielen Ebenen, die selbst evolviert" (Jantsch).

In einer Uhrwerk-Welt bleibt der Mensch ein Zigeuner am Rand des Universums. Eine sich selbst organisierende Welt hebt die Trennung zwischen Subjekt und Objekt dagegen auf oder verkleinert die Fremdheit doch.

Es bleibt festzustellen, daß die Darstellungen von Prigogine und Jantsch von den meisten Physikern eher mit Skepsis betrachtet werden. Allerdings ist eine neue Bescheidenheit in Bezug auf die vollständige Beherrschbarkeit der Natur angesagt. Die Vielfalt möglicher Strukturen (d. h. die fraktale Struktur der Lösungen) sowie ihre "Geschichtlichkeit" selbst für relativ einfache nichtlineare Systeme zeigt deutlich, wie wenig beherrschbar Natur selbst dann ist, wenn man sie mathematisch in Form deterministischer Gleichungen zu fassen bekommt.

F) Relevanz der Selbtorganisations-Theorien für die theologische Reflexion

Das Bild der Natur als einer perfekt konstruierten Maschine in der klassischen Physik entspricht Gott als einem unbewegten Beweger im Sinne des Aristoteles und führt auf Seinsstrukturen. Gott wird als zeitloses Wesen gedacht. Die Beziehungen zwischen Gott und Welt sind eher lose (Dualismus). "Gott schafft die perfekte Maschine, die ihn überflüssig werden läßt." Die Schöpfung hat letztlich keine Relevanz für den Schöpfer.

Das Bild der Natur in der Selbstorganisation entspricht mehr einem kreativen Universum, in dem sich selbständig immer neue Strukturen ausbilden. Die Lösungen oder möglichen Realisierungen von Strukturen sind sehr unterschiedlich und komplex. Setzt man voraus, daß diese Strukturen oberhalb einer bestimmten Komplexität Geist und Bewußtsein haben, so bedeutet das eine immer stärkere Bewußtwerdung der Schöpfung. Der Gott der Selbstorganisation wird dementsprechend nicht absolut gedacht, sondern evolviert selbst (Jantsch). "Gott erschafft die Welt" ist genauso wahr wie "die Welt erschafft Gott" (Whitehead). Gott und Schöpfung bedingen einander, die Welt erhält einen göttlichen Status.

Kann man eine Sicht der Natur erreichen, die Schöpfung weder vergottet noch als belanglos hinstellt? Der christliche Gott ist zugleich Schöpfer und Geschöpf. Er sprengt den Denkhorizont der griechischen Metaphysik dadurch, daß er "Fleisch wurde" und den eines immanenten, evolvierenden Gottes, weil er Himmel und Erde schuf.

Ist Christus das A und das O der Schöpfung, dann erhalten alle Dinge ihren endgültigen Sinn erst durch ihn. Das Kreuz als Symbol für den leidenden Gott stellt sich quer zu unseren allgemeinen Denkkategorien und es verbietet auch einfache Entscheidungen für bestimmte Gottes- und Weltbilder.