K. Helmut Reich:
Rationalität im Historischen Wörterbuch der Philosophie


Nach der Lektüre der Spalten "Ratio" (Kible, 1992), "Rationalismus" (Böhling, 1992), "Kritischer Rationalismus" (Keuth, 1992) und "Rationalität, Rationalisierung" (Rolke & Gosepath, 1992) im Historischen Wörterbuch der Philosophie gehe ich von folgender Vorstellung von "Ratio" bzw. "rational" und "Rationalität" aus:
  1. Tendenziell richtet sich die Ratio auf das Erfassen und Verstehen des 'Körperlichen' sowie das Umgehen damit, der Intellectus hingegen auf das Entsprechende bzgl. des 'Unkörperlichen'. Dabei gilt der Intellectus als das Umfassendere. Bei Tillich (1956, S. 135f.) wird er zur "ekstatischen Vernunft".
  2. Im Gegensatz zu "irrational" wird "rational" dahingehend verstanden, daß interindividuell nachvollziehbare, wohlbegründete, wissenschaftlich anerkannte Prozesse bei Zielsetzung und Erkenntnisgewinnung angewandt werden sowie für die Handlungsleitung.
  3. Wenn "rational" in einen Gegensatz zu "empirisch" gestellt wird, bedeutet dies, daß dem Denken größere Bedeutung beigemessen wird als der Erfahrung.
  4. Der "Kritische Rationalismus" Poppers hat in seiner Weiterführung zum "Fallibilismus" geführt, also zu der Vorstellung, daß Erkenntnisse nur solange gültig sind, bis sie aufgrund neuer Einsichten verbessert werden.
  5. In der Theologie ist der Rationalismus historisch dadurch gekennzeichnet, daß er allein solche Gotteserkenntnis und Religion zuläßt, die der Vernunft entstammen.
  6. Besonders im Wirtschaftsleben versteht man unter Rationalität eine Optimierung der Zweck-Mittel-Relation und unter Rationalisierung technische und organisatorische Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität.
  7. Im Gegensatz zu dieser "Zweckrationalität" steht die "Wertrationalität" (M. Weber), die sich an Werten wie Würde, Schönheit, religiöse Weisung usw. ausrichtet. In einer Erweiterung ist von einer "kognitiv-instrumentellen", einer "moralisch-praktischen" und einer "ästhetisch-praktischen" Rationalität die Rede (K. O. Apel und J. Habermas).
  8. Eine andere Unterscheidung ist jene zwischen rationalem Handeln, das sich auf die faktische Zielerreichung bezieht, und rationalem Glauben, der sich am wissenschaftlichen Weltbild orientiert.
  9. In der analytischen Philosophie gilt die Rationalität von Personen als ein Dispositionsprädikat, jene von wohlbegründeten Meinungen, Wünschen, Normen und Handlungen als eine Eigenschaft. Sind sie unbegründet, so gelten sie als "irrational", und als "arational", wenn sie unter Hypnose, Affekt oder Zwanghaftikeit erfolgen.
  10. Im Laufe der Geistesgeschichte haben sich Bedeutung, Wertung und Konnotation von rational/Rationalität mehrfach gewandelt. Während man zu gewissen Zeiten die Fähigkeit zur Rationalität als eine der höchsten und erstrebenswertesten menschlichen Kennzeichen eingestuft hat -- besonders in der Aufklärung, wo sie mit Optimismus und Fortschrittsglauben verbunden wurde --, war sie zu anderen Zeiten, wie wohl auch heutzutage, eher negativ befrachtet, weil sie als Prinzip des Raisonnements ihre Rolle überschätze und andere Erkenntnismöglichkeiten unterschätze (cf. Strauss, 1996; Welsch, 1996).
Für die vorliegenden Überlegungen zum Thema "Wie rational ist die Wissenschaft?" sind die Punkte (2) (Rationalität als wohlbegründete, wissenschaftlich anerkannte Vorgehensweise), (4) (Fallibismus), (7) (verschiedene Arten von Rationalität) und (8) (Unterschied zwischen rationalem Handeln, das sich auf die faktische Zielerreichung bezieht, und rationalem Glauben, der sich am wissenschaftlichen Weltbild orientiert) von besonderer Bedeutung.

Exkurs: Dany F. M. Strauss (1996) rekonstruiert u.a. die Wandlungen der Begriffe "Rationalismus" und "Irrationalismus" von den Vorsokratikern bis heute, dies unter Berücksichtigung des bleibenden Einflusses des mittelalterlichen Nominalismus. In Anbetracht der oft reduktiven Beschränkungen der jeweils herrschenden Ismen empfiehlt Strauss die philosophische Schule von Dooyeweerd und Vollenhoven als Ausweg. Diese Schule anerkennt sowohl die Einzigartikeit von Individuen wie die Existenz einer universellen Ordnung.
(Strauss, Danie F. M. (1996). Rationalism, Irrationalism and the Absolutized Horizon of Knowledge as Ideals of Knowledge in Philosophy and Science. In: J. van der Meer (Hrsg.), Facets of Faith and Science, Bd. 2, The Role of Beliefs in Mathematics and the Natural Sciences: An Augustinian Perspective, S. 99-121. Ancaster, Ontario (Kanada): The Pascal Center for Advanced Studies in Faith and Science of Redeemer College, and Lanham, Maryland (USA) u.a.: University Press of America.)

K. Helmut Reich: Wie rational ist Wissenschaft?
Rationalitätskriterien
in Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis des 20. Jahrhunderts
(Abstract)


In diesem Beitrag konzentriere ich mich vor allem auf Rationalität als Rechtfertigung für eine interindividuell nachvollziehbare, wohlbegründete, konsensuell anerkannte Vorgehensweise bei Zielsetzung und Erkenntnisgewinnung sowie für Handlungsleitung im Rahmen wissenschaftlichen Arbeitens. Ich nehme an, daß geschichtlich gesehen und auch heutzutage die jeweils vorherrschende Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie im Prinzip die philosophisch anerkannten Rationalitätskriterien erfüllt.

Ich stelle folgende Hypothese auf und diskutiere sie als zentrale Fragestellung des Hauptteils meines Beitrages:

Zumindest in der Wissenschaftspraxis orientieren die Beteiligten ihre eigenen Rationalitätskriterien sowohl an der Art des Ziels als an der jeweils herrschenden Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Bei entsprechender Sachlage, d. h. einer bestimmten Art des Ziels, hat die Wissenschaftstheorie weniger Einfluß, wenn sie auch nicht völlig aus dem Auge verloren wird.

Zur Verdeutlichung dieser Vorstellungen betrachte ich zwei Klassen von Tätigkeitsfeldern, nämlich: (1) die empirischen Natur- bzw. Ingenieurswissenschaften und (2) die Geistes- und Sozialwissenschaften. Im ersteren Fall wird meine unterstellte These dann besonders klar, wenn das Erreichen des Ziels eine unmittelbare Interaktion mit der Natur beinhaltet, also etwa bei forschungsorientierten Arbeiten von Hoch- und Tiefbauingenieuren, Medizinern oder Physikern. In solchen Fällen entscheidet im Grenzfall die Natur erkennbar über Erfolg oder Mißerfolg der Forschungsbemühungen. Wenn der 'Widerstand', die 'Rückstellkraft', die von außen kommenden Fakten, die Erfolg oder Mißerfolg anzeigen, bei einer anderen Art von Forschung weitaus schwächer denk- und handlungsleitend sind, dann beinhaltet Rationalität im Gegenteil, der (herrschenden) Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie mehr Gewicht beizumessen.

Nach einer Diskussion etlicher Beispiele aus beiden Tätigkeitsfeldern resümiere ich etwas systematischer die Evolution der Vorstellungen von wissenschaftlicher Rationalität im 20. Jahrhundert.

Gliederung:
  • Abhängigkeit der Rationalitätskriterien von der Natur des Ziels
  • Rationalität in empirischen Natur- bzw. Ingenieurswissenschaften
  • Rationalität in den Geistes- und Sozialwissenschaften
  • Änderung der Rationalitätsvorstellungen
  • (Natur-)wissenschaftliche Rationalität von 1900 bis heute