Peter Nitschke:
Religiöse Verantwortung und rationale Sendung:
Bewusstseinsformen abendländischer Identität
Das Abendland steht im Rahmen der Europäischen Integration wieder einmal vor einer substantiellen Entscheidungsfrage: Wer oder was gehört zur Europäischen Union und wo sind die Grenzen zu ziehen? - Glücklicherweise ist diese Frage nicht kriegerisch zu entscheiden, wohl aber muss sie kognitiv (im Sinne einer Wertedebatte) gelöst werden. Hierfür ist das gesamte Repertorium der abendländischen Kultur in Rechnung zu stellen. Was aber ist dieses »Gesamte«? - Unverkennbar gehört die religiöse Dimension zum europäischen Erscheinungsbild, denn ohne den Siegeszug des Christentums wäre Europa nichts das geworden, was es ist. Ebenso gehört aber auch die Aufklärung - mit ihren rationalistischen Vorläufern in Form von Renaissance und Reformation - hier hinzu. Beide Seiten bilden, wenn man so will, den dialektischen Part ein und der gleichen Medaille: Die Entwicklung zur Demokratie und zum modernen Verfassungsstaat, zum Individualismus, zu den Menschenrechten und zum Wettbewerb der Märkte wäre ohne das dialektische In- und Gegeneinander von Vernunft- und Glaubensanspruch gar nicht formulier- und durchführbar gewesen. Insofern ist der europäische Prozess zur Moderne global gesehen einmalig und kulturell nicht austauschbar. Es wäre jedoch zu einfach, wollte man diesen Prozess lediglich unter dem ambivalenten Paradigma von Jerusalem versus Athen stellen. Athen für die Vernunft und Jerusalem für den Glauben. Tatsächlich verhält sich das Wechselspiel der Argumente wesentlich vielschichtiger und ist längst nicht so einheitlich, wie es die Adepten der Aufklärung in der Gegenwart verstanden wissen wollen. »Aufklärung«, so hier die These, wird oft selbst formuliert als Heilsanspruch, als ein quasi säkulares Visionsprojekt, das mit milleniaristischem Offenbarungseifer daher kommt und dadurch nicht unbeträchtliche Problemlagen für die moderne Gesellschaft überhaupt erst schafft. Am Beispiel einiger Überlegungen zur Utopie, zum Machtgedanken des Staates, zum Rollenspiel von Individuum und Gesellschaft soll diesen Selbstzuschreibungsmustern in der abendländischen Debatte (hier: von Platon zu Habermas) näher nachgegangen werden.
|
|