OStR i. R. Oskar Kalisch, Villingen:
Der Übel größtes aber ist die Schuld.

Einführung ins Tagungsthema an und mit Beispielen aus der Literatur


Aufgabe: Hinführung zum Thema der Tagung an Hand von Beispielen aus der deutschen Literatur.

Ziel der Literatur ist es nicht, dass sie Tatbestände definierend auf den Begriff bringt. Sie will vielmehr Sachverhalte klären, indem sie diese durch Anschauung ins Bewußtsein hebt.

Gottfried Keller z. B. zeigt in seiner Novelle "Romeo und Julia auf dem Dorfe", wie das Böse zerstörerisch in die idyllische Umgebung eines Dorfes eindringt. Er greift dabei auf die alte Fabel zurück, in der die Verfehlung von zwei Familienoberhäuptern den Verfall und Untergang ihrer Familien einleitet. Er analysiert den komplexen Zusammenhang von Ungerechtigkeit, Verfall der sozialen Beziehungen und Tod und setzt dagegen die versöhnende, wenn auch nicht bewahrende Kraft in der Liebe ihrer Kinder.

Ursachen und Folgen des Bösen, aber auch die Macht, aus der heraus Menschen dem Bösen widerstehen können, analysiert Jeremias Gotthelf in seiner Erzählung "Die schwarze Spinne." Das zerstörerische Böse nimmt bei ihm in Form einer Spinne buchstäblich Gestalt an. Als Verführungskraft ist es, literarischer Tradition folgend, in der Gestalt des grünen Jägers personifiziert. Nicht zufällig ist das Geschehen zeitlich in das Mittelalter zurückverlegt.

Einen neuen Weg in der Frage nach dem Bösen betritt Schiller in seiner Erzählung "Der Verbrecher aus verlorener Ehre." Er betont sein psychologisches Interesse an dem Sonderfall, den der Verbrecher darstellt. Es sind die sozialen Umstände, die ihn zum Außenseiter machen und zum Bösen führen. Inhaltlich steht Schiller also in Rousseaus Tradition. Sein psychologisches Interesse erklärt den Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Die Plausibilität dieser Beziehung entschuldet den Menschen, selbst den Mörder in der Erzählung. Schiller kommt aber nicht umhin, bei der Entscheidung für den Mord eine numinose Verfremdung einzuführen: "Eine unsichtbare dunkle Hand schwebte über mir, der Stundenweiser meines Schicksals zeigte unwiderruflich auf diese schwarze Minute."

Die Sturm und Drang-Epoche des 18. Jahrhunderts bringt das Dämonische und das Genie in Verbindung miteinander. Der Teufel wird in Form des Mephisto hoffähig im Blick auf den genialen Menschen. Thomas Mann greift die Fausttradition in seinem Roman "Doktor Faustus" auf, in dem sich ein Musiker dem Bösen zuwendet, weil er hofft, dass er sich durch einen Teufelspakt in seinem Künstlertum zum Übermenschen steigern kann.

Wer dem Bösen ausgeliefert ist, dem widerfährt Übel. Wer sich ihm ausliefert, verfällt in Schuld. Das Thema Schuld ist in der neueren Literatur in breiter Streuung und auf unterschiedlichsten Ebenen angesprochen: bei Kafka und Bachmann, Eich, Lenz und anderen mehr.