Jürgen Hübner

 

Einführung zum Thema:

Leben in des Menschen Hand.

Theologische Einschätzung von Gentechnik und Stammzellforschung

 

 

Um zu einem sinnvollen, ethisch reflektierten Umgang mit den neuen Technologien und Techniken (und nicht bloß moralischen Urteilen) zu gelangen, ist das Gespräch der Beteiligten und der (auch der nur potentiell) Betroffenen miteinander unabdingbar. Das meint sowohl den individuellen Dialog als auch den gesellschaftlichen Diskurs; beide sind über Rollenwechsel miteinander verbunden. Industrievertreter (alle hierarchischen Ebenen eingeschlossen) und im Labor arbeitende Wissenschaftler einerseits, besorgte Bürger (die z. T. selbst in der Industrie und im Labor arbeiten) und engagierte Gruppen müssen    um Konsens bemüht oder bleibend kontrovers    miteinander reden: Anders ist die Tiefe der ethischen Problematik nicht erreichbar.

 

Der normative Diskurs befindet sich isoliert in einer Sackgasse. Position steht gegen Position: „Bioethik“ versus „Lebensethik“, „Ethik der Interessen“ versus „Ethik der Würde“, beispielhaft: Industrievertreter und Bauernverbände gegen Umweltschutzgruppen und naturnah orientierte Landwirte, pragmatisch orientierte Mediziner gegen den absoluten Schutz menschlichen Lebens von der Konzeption an. Normative Ethiken entwickeln auf beiden Seiten in sich schlüssige Argumentationsmuster. Im Ergebnis stellen sich mehr oder weniger tragfähige Kompromisse ein. Für die Biomedizin ist die einschlägige Menschenrechtskonvention des Europarates („Bioethik­konvention“) ein charakteristisches Beispiel.

 

Die Blockaden im Streit normativer Einstellungen miteinander reichen jedoch noch tiefer. Unterschiedliche „Stories“ führen zu unterschiedlichen Grundorientierungen: Kulturelle, nationale, gesellschaftliche, biographische Prägungen im Zuge disparater Sozialisationen schlagen sich in vielerlei ethischen Vorstellungen nieder. Von daher prägen Dissense und Konsense gegenwärtige ethische Diskussionen. Paradigmatisch stehen dafür die ökologische und    besonders aktuell    die Debatte um Embryonen- und Stammzellforschung. In der Diskussion um den moralischen Status des Embryos prallen zentraleuropäische und angelsächsische Tradition (verkürzt: philosophischer Realismus und Nominalismus) aufeinander. Auf der Ebene rationaler, auf Normen abzielender Argumentation ist ein Ausgleich nicht möglich: Der Satz vom Widerspruch gilt. Für die Frage ethischer Orientierung muss genau hier weitergefragt werden.

 

Vom Reflexionszusammenhang rationaler Argumentation muss der lebensweltliche Bereich vor- und nachrationaler (nicht irrationaler!) Lebensführung, spontaner sittlicher Wahrnehmung und Intuition (kurz: „Lebenszusammenhang“) unterschieden werden. Die Sprache des Gewissens gehört hierher. Sie ist kommunikativ geleitet: Leben findet in Gemeinschaft statt. Religiöse und weltanschauliche Grundorientierungen und sittliche Prägungen bis hin zu Lebensentwürfen haben hier ihren Ursprung. Das wirkt sich in moralischen Überzeugungen bis hin zu deren ethischer Diskussion und Festschreibung im Reflexionszusammenhang aus.

 

Zwischen existentieller ethischer Wahrnehmung und sittlicher Intuition, „Ethos“ einerseits und reflektierender Ethik und Normenbildung besteht ein Zirkel: Normen gehen in den Lebenszusammenhang ein und prägen ihn, ethische Grundsätze folgen jedoch lebensweltlich verorteten Entscheidungen, die dazu führen, dass Normen hinterfragt und verändert werden. Das ist ein unabschließbarer Prozess, der dem offenen Fortgang des Lebens entspricht. Man kann und darf sich deshalb keine „abgeschlossenen“ ethischen Meinungen und Urteile bilden.

 

Diese Grundierung ethischer Urteilsbildung ist ein Thema, das in der gegenwärtigen fundamentalethischen Arbeit eine zentrale Rolle spielt und dem jeweiligen Ansatz ethischer Reflexion entsprechend auf unterschiedliche Weise bearbeitet wird. Lebensweltliche Vororien­tierungen müssen jedenfalls explizit gemacht werden.

 

Die Darstellung und Analyse von Szenarien kann die ethische Problematik verdeutlichen und präzisieren, die mit dem Einsatz neuer biotechnischer Methoden entsteht. Im Blick auf einzelne konkrete Lebenssituationen und deren Kontext kann die Frag-würdigkeit generalisierender Begriffe, Argumentationen bis hin zu Normierungen aufgedeckt werden. Prinzipien können kontraproduktiv werden. Lebensdienlichkeit hat mit Situationsgerechtigkeit zu tun. Der Rekurs auf artgerechte Natürlichkeit ist um den Schutz mitgeschöpflichen Umgangs mit Tieren und Pflanzen besorgt. Der Verweis auf die Menschenwürde soll Menschlichkeit in zwischen­menschlichen Beziehungen schützen und fördern. Die Argumente als solche können sich aber vom gelebten Leben entfernen und dieses unter bestimmten Umständen sogar verstellen. Ent­scheidend ist, welche Biotechnik an welcher Stelle eingesetzt werden soll oder nicht, weniger, ob Biotechnik überhaupt Fluch oder Segen bedeutet. Für wen, wann und wo das eine oder andere gilt, muss jeweils vor Ort herausgefunden werden.

 

● Die Notwendigkeit, über die bloße Auseinandersetzung um Werte und Normen hinaus­zukommen und Vororientierungen im Lebenszusammenhang zu erkennen und zu berück­sichtigen, wird im Bereich der Genetischen Beratung und der Stammzellforschung besonders deutlich. Der Umgang mit Embryonen während und vor der Schwangerschaft zeigt, wie wichtig die Wahrnehmung von Beziehungen für das Verhalten und dessen sittliche Ausrichtung sowie dann deren ethische Vermittlung ist. Rational befriedigende „Lösungen“ sind kaum zu erwarten. Logische Widersprüche sind im Zusammenleben der Menschen nicht auszuräumen. Thematisiert werden muss deshalb der jeweils personal geleitete Umgang von Menschen miteinander und so auch mit Embryonen und Stammzellen und damit die vor- und nachrational gesteuerte Beziehung zu ihnen. Embryonen stammen von Menschen ab    sie haben einen Vater und eine Mutter (weshalb normalerweise deren Einverständnis für Forschungen eingeholt werden muss). Sie können ihrerseits zumindest potentiell zu Menschen werden. Dazu sind sie von Menschen abhängig. Diese und die natürlich noch umfassendere Beziehungsvielfalt und deren Ausprä­gungen gilt es genau in den Blick zu nehmen. Das reicht weiter als der bloße Rekurs auf die Menschenwürde und die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens. Wie Menschen mit menschlichem Leben auch in seinen Anfängen und auch schon in Gedanken umgehen, ist die Frage; erst sekundär ist das die Frage nach dem „moralischen Status“ von befruchteten Eizellen, Embryonen und Stammzellen. Die Integration außerrationaler Wahrnehmungsformen erweist sich gerade hier für die ethische Urteilsbildung als unabdingbar.