Heinzpeter Hempelmann: Postmoderne Rationalitätskritik
und der Logos des christlichen Glaubens


Die folgenden Fragen / Beobachtungen scheinen mir wegweisend zu sein:
  • Philosophische und wissenschaftstheoretische Reflexion sieht sich vor folgenden Schwierigkeiten:
    1. Das "Münchhausentrilemma" aller Begründungsversuche. Geltungsansprüche können einerseits die Rückfrage nach Geltungsgründen nicht verweigern, müssen diese aber gleichwohl schuldig bleiben. Denn jeder Begründungsversuch stellt entweder einen Abbruch des Begründungsverfahrens, einen logischen Zirkel oder Teil eines infiniten, nicht praktikablen Begründungsregresses dar.
    2. Objektive -- im Sinne von standortunabhängiger, allgemein gültiger -- Erkenntnis ist nicht möglich. Dies gilt nicht nur für die Geisteswissenschaften, sondern bis in den Bereich der Naturwissenschaft und Mathematik/Logik hinein. Wer solche Erkenntnisansprüche erhöbe, reklamierte einen "Gottesstandpunkt" jenseits aller geschichtlichen (und anderen) Bedingtheiten und übersähe z. B. die sprachliche Bedingtheit aller Kategorien und Begriffe, für die Allgemeingültigkeit vorausgesetzt wird.
    3. Auf Grund der Nichtabschließbarkeit der Begründung wie der Komponentenzerlegung eines wissenschaftlichen (oder anderen) Begriffs kann noch nicht einmal die Widerspruchsfreiheit und damit der Sinn einer wissenschaftlichen Aussage garantiert werden.
    4. Jede Aussage lebt von einer letztlich metaphysischen Sinn-Unterstellung, ohne die sie zwar keinen Sinn hat, die aber gleichwohl diesen Sinn nicht beweist.
    5. Alle, auch die wissenschaftlichen Aussagen sind Ausdruck eines "Willens zur Macht", der Subjekt ist und sich und seine Bedeutung durch die Etablierung seiner Bedeutungen (von Gott, Mensch und Welt) durchzusetzen sucht. Ist die Beanspruchung von Wahrheit demgegenüber etwas anderes als die Illusion, ohne die der Mensch eben nicht zu leben vermag? Gibt es dann nur eine Wahrheit oder nicht sehr viele? Und wenn es nur eine Wahrheit gäbe, wäre das dann nicht die Wahrheit des Stärkeren bzw. Stärksten?
  • Die postmoderne Rationalitätskritik stellt die systematisch-theologische Bemühung um die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube vor ganz neue, die bisherige Herausforderung revolutionierende Aufgaben. Traditionell mußte die Theologie immer wieder um ein Eigenrecht kämpfen. Folgerichtig war es die Aufgabe der Apologetik, "die Vernunft" in ihrem Erkenntnisanspruch eher einzuschränken. Nachdem die Metaphysikkritik führender postmoderner Theoretiker den Begriff "der Vernunft" destruiert hat, steht Theologie heute vor der umgekehrten Aufgabe, "Vernunft" zu rehabilitieren. Denn Glaube an Gott braucht Vernunft, und Theologie kommt ohne nous nicht aus.
  • Die Theologie kann dabei für sich keine Privilegien beanspruchen. Sie sitzt mit Philosophie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie im selben Boot. Alle metakritischen Anfragen an das Vermögen kritischer Vernunft gelten auch für ihre Erkenntnisansprüche. Würde die Theologie für sich Sonderrechte beanspruchen, käme es zur Etablierung einer "doppelten Wahrheit". Theologische Anfragen hätten dann ihre eigene Logik; diese wären per definitionem nichttheologischer Kritik entzogen. Aber wäre der Preis für solche Immunität gegen Kritik nicht zu hoch? Bedeutet fehlende Kritisierbarkeit nicht auch Bedeutungslosigkeit und Verlust eines überprüfbaren Wirklichkeitsbezuges? Kann sich Theologie das pneumatologisch / missionarisch erlauben? Kann sie es sich schöpfungstheologisch im Hinblick auf ihren Anspruch, Wirklichkeitswissenschaft zu sein, erlauben? Kann sie es sich christologisch im Hinblick auf die Proklamation der Kyriotes Jesou erlauben?
  • Ein theologischer Erkenntnisbegriff muß sich dem erkenntnistheoretischen Reflexionsniveau nicht nur gewachsen zeigen. Er muß aus der Reflexion des speziell ihm obliegenden Gegenstandsfeldes heraus auch Ansätze zu Lösungen der Probleme bzw. Aporien beitragen, vor denen sich die philosophische und wissenschaftstheoretische Reflexion gestellt sieht und vor denen sie kapituliert.
  • Wie sieht der theologische Erkenntnisbegriff aus, der in der Lage ist, diesen Schwierigkeiten und Herausforderungen standzuhalten?