Dr. habil. Hansjörg Hemminger, Stuttgart:
Aggression und Tod  -  notwendige Übel?

Rückfragen an Soziobiologie und Sozialpsychologie


Thesen zum Vortrag

Die Spannung des Themas gehört zur Geistesgeschichte der westlichen Moderne. Ein christliches bzw. ein davon abgeleitetes humanes Bild vom Menschen kontrastiert mit einem naturwissenschaftlichen Bild, das den Gottesbezug von Natur und Mensch ignoriert, das keinen Raum für die Einzigartigkeit von menschlichem Individuum und Wesen lässt, das durch seinen Determinismus den Menschenrechten den Boden entzieht usw. Apostolisches Bekenntnis und Artikel 1 GG auf der einen Seite, der Mensch als "Zigeuner am Rand des Universums" auf der anderen - wir kennen die Wirkungsgeschichte in Ideologie und Politik. Ernst Haeckels Monisten und der Kepler-Bund, Eugenik und Rassenlehren - die historischen Erfahrungen sind gesammelt. Die Kontroversen nutzten sich dadurch auch ab: Der Mensch als Zwischenprodukt der Evolution, der Tod als ihre Voraussetzung (Deszendenztheorie), der "Kampf ums Dasein" als Motor des Werdens (Selektionstheorie): Solche Sätze haben - außer für den Kreationismus - kaum mehr christlichen Skandalwert. Trotzdem könnte die historische Spannung durch Gehirnforschung, KI-Forschung und die neue Genetik wieder virulent werden. Derzeit wird sie noch vorwiegend am Beispiel der Soziobiologie verhandelt. Die Kontroverse wird von zwei populären Büchern markiert:

"Das sogenannte Böse. Eine Naturgeschichte der Aggression" von Konrad Lorenz erschien 1963 und erhob auf der Grundlage der klassischen Verhaltensforschung (Konrad Lorenz, Niko Tinbergen u. a.) den Anspruch, Erklärungen für aggressive Verhaltensweisen bereitzustellen, deren Behandlung bisher Sache der Psychologie, Soziologie und Philosophie war. Vorhersagbarerweise wurden sie weithin als ein Wegerklären des Bösen empfunden. In der Sozialpsychologie fand Konrad Lorenz allerdings Rückhalt: Experimente gaben der Vorstellung von der "Natürlichkeit des Bösen" Nahrung.[1] Am spektakulärsten verlief das "Gefängnis-Experiment" von Zimbardo in Stanford.[2] Dabei wurden Studenten in einer Versuchsanordnung als Häftling bzw. als Wärter eingesetzt. Es zeigte sich, dass es zu Gewaltmaßnahmen von Seiten der "Wärter" und zu typischen Gefangenenreaktionen auf Seiten der "Häftlinge" kam. Durch die beiderseitige Uniformierung entstanden geschlossene Gruppen, wobei die eine Gruppe Macht über die andere erhielt. Kollektive Grausamkeit war die scheinbar automatische Folge. Dieses und andere Experimente bewiesen die Verführbarkeit des Menschen durch die "Gruppenkultur". Die Verführbarkeit durch eine Autorität ließ sich ebenso demonstrieren. Hier wäre das klassische Milgram-Experiment zu erwähnen.[3] Ein Experiment von Meeus und Raaijmakers ist ähnlich bedeutsam, bei dem das (angebliche) Opfer nicht wie bei Milgram mit Stromstößen gequält werden musste. Ein Bewerber um einen Arbeitsplatz (ein Komplize) musste auf Anweisung des Versuchsleiters von den Versuchspersonen durch herabsetzende Bemerkungen beim Bestehen eines Testes behindert werden.[4] Das Ergebnis war, dass auf Befehl eines angeblichen Chefs 92 % der Versuchspersonen den verlangten Druck ausübten. (Bei Milgram waren nur 65 % der Versuchspersonen als "gehorsam" klassifiziert worden.) Verließ der "Chef" das Labor, sank der Totalgehorsam allerdings auf 36 % ab. Noch wirksamer war es, wenn zwei weitere angebliche Bewerber sich gegen den Chef auflehnten. Dann war der gehorsame Vollzug nur noch in 16 % der Fälle zu erreichen. Moral als eine Sache von Gruppenkultur und Gelegenheit - war damit das "sogenannte Böse" nicht als Teil des überlebens- und konkurrenzorientierten Verhaltens des sozialen Säugetiers "Mensch" entlarvt?

Mehr als ein Jahrzehnt nach dem "Sogenannten Bösen" erschien "The selfish gene" von Richard Dawkins (1976) [5]. Er wollte auf der Grundlage der in den siebziger Jahren entstandenen Soziobiologie beweisen, dass das menschliche Verhalten der Fitness der genetischen Information dienen muss, so dass der Mensch als ein organischer Roboter erscheint, der die Überlebens-Programme seiner Gene ausführt. Von daher erledigte sich für ihn nicht nur die Frage nach dem Bösen, sondern die nach jeglicher Eigenverantwortung des Menschen. In der Soziobiologie wird das Verhalten als ein Ergebnis der Konkurrenz genetischer Information in der natürlichen Selektion betrachtet. Neue Begriffe wie die Verwandtenselektion (kin selection) und "reziproker Altruismus", sowie die Einführung spieltheoretischer Überlegungen brachten die Evolutionsbiologie tatsächlich weiter. Auf der anderen Seite war die Vorstellung E. O. Wilsons, Psychologie, Soziologie und Philosophie ließen sich mit Hilfe der Soziobiologie auf Naturwissenschaft zurückführen, auch eine Absage an jegliche Ethik. Von daher kann die Frage nach dem Bösen erst wieder gestellt werden, wenn dieser Fächer-Imperialismus widerlegt ist. Wie könnte ein biologisch schlüssiges Menschenbild aussehen, das ethische Fragen dennoch erlaubt?

In die Entwicklung des menschlichen Verhaltens fließt genetische Information ein, und zwar wahrscheinlich nicht weniger als bei anderen Säugetieren. Im Sozialverhalten gibt es genetisch vorstrukturierte Merkmale, die wir von Säugetieren kennen und bei ihnen als brutal bewerten: die Neigung der Gruppe zur kollektiven Aggression gegen Fremde, die Feindseligkeit gegen in Aussehen oder Verhalten abweichende Mitglieder, Aggressivität von Männchen gegen fremde Junge und anderes mehr. Von daher tragen wir "natürliche Übel" mit uns herum, die sich unserer Verantwortung erst einmal entziehen. Allerdings gibt es zum Beispiel zu der genetischen Tendenz, Fremdes abzulehnen, genetisch vorgegebene Gegenspieler, zum Beispiel die Neugier auf Unbekanntes oder eine Faszination der Exotik. Vor allem aber gehört zum Menschen eine aus biologischer Sicht einmalige Lernfähigkeit. In einer beispiellos langen Jugendentwicklung baut das Gehirn die Fähigkeit auf, die Welt auf mehreren Komplexitätsebenen in Symbolen abzubilden und aus dieser "inneren Repräsentation der Welt" Anleitung zum Handeln zu gewinnen. Am deutlichsten drückt sich die Einmaligkeit dieser Verhaltenssteuerung in einem untrennbar zum Menschen gehörenden Verhalten aus, der Sprache. Was gelernt wird, stammt nicht nur aus der Erfahrung des Individuums, sondern aus der in tradierte Symbole gefassten Überlieferung vieler Generationen. Durch diese Lernvorgänge werden die durch genetische Information beeinflussten Elemente des Verhaltens keineswegs gelöscht. Vielmehr fließt die genetische Information über die (auf ihrer Grundlage gebildete) neuronale "Hard- und Software" in die Sozialisation mit ein, diese wird mit der durch Tradition und Erfahrung aufgebauten "Software" zu einem ebenso fein strukturierten wie plastischen und lernfähigen System verbunden. Der Mensch sichert im Gegensatz zum Tier sein Leben durch Kulturleistungen, und in seiner Geschichte konkurrieren Kulturen und Zivilisationen miteinander. Die natürliche Auslese spielt in der Regel keine erkennbare Rolle mehr in der Wahl zwischen verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten, die einem Menschen oder einer Gesellschaft offen stehen. Daher sind Rassenhass und Fremdenhass nicht unvermeidlich, obwohl sie auch genetische Wurzeln haben. Eine moderne Gesellschaft muss deshalb nicht ausländerfeindlich sein, Menschen müssen keine fremdenfeindlichen Gefühle hegen. So weit reicht bereits eine innerwissenschaftliche Diskussion.

Lässt sich die Spannung zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und humaner Ethik also durch bessere Natur- und Sozialwissenschaft auflösen? Zum Teil sicherlich, und wäre die moralische Instanz unserer Kultur nicht die christliche Tradition, sondern (eine historische Unmöglichkeit) ein antikes Heidentum, könnte man von Harmonie zwischen Wissenschaft und Moral sprechen:

"Wisse: Was den Glauben an die Götter anlangt, so ist es die Hauptsache, dass du die richtigen Vorstellungen von ihnen habest, nämlich dass sie vorhanden sind und das Weltall gut und gerecht verwalten; und du selbst musst dich daran gewöhnen, ihnen zu gehorchen und dich allem, was geschieht, zu fügen und zu unterwerfen, in der Gewissheit, dass es dir ja von höchster Einsicht auferlegt wird. Dann wirst du die Götter nicht tadeln und ihnen nicht vorwerfen, du werdest vernachlässigt. Das kann übrigens nur geschehen, wenn du ,gut' und ,böse' absonderst von dem, was nicht in unserer Macht ist, und allein in das einordnest, was in unserer Macht ist." [6]

Der biblische Gottesglaube wird sich mit dieser Ethik des Hinnehmens von Unabänderlichem jedoch nicht abfinden können. In hartnäckiger Heilssehnsucht nennt er gerade das böse, was nicht in menschlicher Macht steht: Unglück, Leid und Tod. Dadurch verschiebt sich der Konflikt mit der Naturwissenschaft ins Grundsätzliche: Kann eine Naturgeschichte wahr sein, die den Tod nicht nur zum "Sold der Sünde", sondern zum Bestandteil des Schöpfungsplans macht? Kann man eine Naturwissenschaft theologisch akzeptieren, die Räuber-Beute-Beziehungen, Aggression und Konkurrenz als schöpfungsbedingt erscheinen lässt? Das naturwissenschaftliche Menschenbild bringt zwar die Fragen biblischer Theodizee nicht hervor, aber es verschärft sie. Und das mag sogar gut sein, denn damit werden allzu schnelle Antworten aus dem Weg geräumt. Um tragfähigere, tiefere Antworten wird es auf dieser Tagung gehen.

1 Übersicht in: Gibson, J.T., Haritos-Fatouros, M.: Wie man zum Folterknecht wird. Psychologie heute 14 April 1987 54-59
2 Zimbardo, P.G.: The human choice - individuation, reason, and order vs. deindividuation, impulse, and chaos. In: Arnold, W.C. (ed.): Nebraska symposium on motivation. Univ.Nebraska Press Lincoln 1969
3 Milgram, S. Obedience to authority - an experimental view. New York 1974, deutsch: Rowohlt Reinbek 1974
4 Meeus, W.H.J., Raaijmakers, Q.A.W.: Administrative obedience - carrying out orders to use psychological-administrative violence. European J. Social Psychol. 16 311-324 1986
5 Deutsch: Das egoistische Gen. Heidelberg 1978
6 Epiktet: Handbüchlein der Ethik Kapitel 31