PD Dr. theol. Matthias Heesch, Wuppertal:
Die Zeitlichkeit der Realität menschlichen Daseins:

Zur Frage nach Anfang und Ende der Welt
im Kontext einer systematisch-theologischen Anthropologie
und einer hermeneutischen Religionswissenschaft


1. Methodische Vorüberlegungen: Klärungsbedürftig sind vorab zwei Fragen: a) Soll der Versuch unternommen werden, naturwissenschaftliche und theologische Einsichten zu der anstehenden Frage auszugleichen? b) Was soll im Sinne unserer Fragestellung unter einer hermeneutischen Religionswissenschaft verstanden werden und wie ist diese zur Systematischen Theologie in Beziehung zu setzen?

a) Ein erheblicher Teil der Literatur versucht, theologische und naturwissenschaftliche Antworten auf die Frage nach Anfang und Ende der Welt miteinander auszugleichen. Dieses Verfahren soll hier nicht angewendet werden. Vielmehr versteht sich der nachfolgende Beitrag als rein theologischer Versuch, die anstehende Frage einer Klärung näherzubringen. Dabei wird vorausgesetzt, daß es mehrere, grundsätzlich zu unterscheidende, Sorten von Wissen gibt. Es gibt die, mit dem Dasein und seiner gegenwärtigen und geschichtlichen Selbstauslegung unmittelbar verbundenen, existentiell-orientierenden Gewißheiten. Auf diese muß in jedem Moment bewußter Lebensführung zurückgegriffen werden, sie bilden sozusagen ein Einordnungs- und Bewertungssystem für alles, was an objektiven Einsichten zuwächst. Ferner gibt es eben diese objektiven Einsichten. Sie bilden diejenige Schicht von Bewußtseinsinhalten, die sich auf dingliche Gegebenheiten beziehen. Das schließt deren Relationen untereinander ein, wie sie etwa mittels der Naturgesetze erfaßt werden. Die systematisch-theologische Frage nach der zeitlichen Begrenztheit der Welt soll nun die erste, existentielle, Dimension thematisieren. Die weitere Frage nach den Einsichten, die von den geklärten existentiellen Aspekten der zeitlichen Struktur der Welt für deren objektive Verfaßtheit folgen, ist damit jedoch nicht ausgeklammert, vielmehr am Ende unserer Überlegungen wieder aufzugreifen.

b) Es ist zu fragen, wie der religionswissenschaftliche Aspekt integriert werden soll. Unter den verschiedenen Möglichkeiten, Aufgabe und Methodik der Religionswissenschaft zu bestimmen, soll hier der Weg einer hermeneutischen Religionswissenschaft gewählt werden. Hierunter ist eine Religionswissenschaft zu verstehen, die sich - etwa im Sinne des Ansatzes G. v. d. LEEUWS - um einfühlendes Verstehen religiöser Phänomene bemüht, dies freilich aus einer Außenperspektive. Nun ist es allerdings so, daß die Wahrnehmung dieser Außenperspektive als sog. Apologetik zugleich in den klassischen Aufgabenkanon der Systematischen Theologie fällt: Die Apologetik bemüht sich darum, in bewußter Konkurrenz mit anderen weltanschaulichen Konzepten die Anliegen des Glaubens nach außen, d. h. auch für Nichtglaubende, verständlich zu machen. Sie ist sozusagen eine hermeneutische Religionswissenschaft als Bestandteil der Systematischen Theologie. Diese Aufgabenbestimmung der hermeneutischen Religionswissenschaft als Apologetik ermöglicht es, die religionswissenschaftliche Fragerichtung in die systematisch-theologische Gesamtfrage einzugliedern und auf einen eigenen religionswissenschaftlichen Argumentationsgang zu verzichten.

2. Die dogmatische Frage nach der zeitlichen Begrenztheit der Welt: Ausgangspunkt muß die biblische Fassung dieser, als solche freilich allgemein-menschlichen, Fragestellung sein. Der Prolog des vierten Evangeliums (Joh 1,1-18) deutet die Sendung Jesu im Kontext der Entstehung der Welt durch die Vermittlung des logos, und er tut dies so, daß die Sendung Jesu zugleich die eschatologische Zielbestimmung der Welt beinhaltet. Der Ausgangspunkt ist jedoch die völlige Neuqualifizierung im Glauben, die durch die Christusoffenbarung möglich geworden ist. Die Einsicht, daß die Welt sich in einer endlichen Zeit erstreckt und gerade aus dieser Begrenztheit ihren Sinn als endliche Welt gewinnt, ist für die johanneische Theologie Implikation der christologisch ermöglichten Gottesbeziehung. Damit gewinnt nach neutestamentlicher Auffassung der Glaube aber auch Teil an der überzeitlichen Bedeutung Christi (Hebr. 13,3). Daraus ergibt sich einerseits eine Relativierung der Bedeutung der Zeitkategorie, dies aber andererseits im Sinne einer Einordnung von Zeit als Phänomen innerhalb der theonom begründeten Gesamtwirklichkeit. Die Frage, ob hieraus ein Standpunkt für eine generelle ontologische Theorie der Wirklichkeit gewonnen werden kann, wie verschiedentlich in der älteren (ORIGENES) und neueren (R. ROTHE) Theologie versucht, ist allerdings aus erkenntnistheoretischen Gründen zu verneinen.

Im Kontext einer systematisch-theologischen Anthropologie ist nun eine Analyse des menschlichen Daseins vorzunehmen: Dasein ist immer auf sinnhatte Strukturen als seine Voraussetzungen angewiesen und es ist ferner darauf angewiesen, daß ihm ein Gesamtsinn des Lebens in der Erstreckung auf Zukunft hin weiteren Sinn ermöglicht. Leben geht also von Sinnstrukturen aus und ist auf diese hin ausgerichtet, ist mithin, sofern es nicht scheitern soll, auf die ihm unverfügbare und damit transzendente Gegebenheit von Sinn angewiesen. Diese Gegebenheit eines umfassenden Lebenssinnes kommt geschichtlich im Lebenszeugnis Jesu zur Erscheinung. Sie beschränkt sich jedoch nicht auf die geschichtliche Epoche Jesu, sondern ist nur sachgemäß verstanden in dem Bekenntnis zu Gott als dem umfassenden Urheber und Garanten eines in der Geschichte erscheinenden, insofern lebensbedeutsamen, aber in dieser geschichtlichen Bedeutsamkeit nicht aufgehenden Sinnhaftigkeit des Daseins.

3. Naturwissenschaftliche Bedeutung: Damit ist zunächst einmal auf alle Aussagen im Sinne einer naturwissenschaftlichen Kosmologie verzichtet. Gleichwohl ist das Gesagte naturwissenschaftlich gesehen nicht indifferent: Zunächst ist der Naturwissenschaft jede Kompetenz zu bestreiten, von tatsächlichen oder vermeintlichen Einsichten her die Möglichkeit von Sinn zu bestreiten, etwa in der Konsequenz materialistischer Kosmologien. Vielmehr ist die Naturwissenschaft daran zu erinnern, daß sie selbst von Sinnvorgaben lebt, Sinnstrukturen etabliert und schon deswegen die Möglichkeit von Sinn als objektiv-gültiger Kategorie nur um den Preis des Selbstwiderspruchs negieren kann. Es ist weiter darauf zu beharren, daß der Bereich des Objektiven nicht auf materielle Gegebenheiten und physikalische Gesetze eingeengt werden kann, sondern daß die Sinnstrukturen gelebten Daseins, so wie sie der christliche Glaube in exemplarischer Verwirklichung bietet, ihrerseits in den Bereich des Objektiven gehören. (Eine konsequente Ausführung dieses Programms findet sich - wenn auch mit Verzicht auf eine Würdigung des Christentums - in der Ontologie und Wertphilosophie NICOLAI HARTMANNS.) An die Naturwissenschaften ist mithin die Forderung zu richten, entweder mit ihren Mitteln Gesamttheorien des Wirklichen zu erstellen, die Raum für Sinn-Objektivitäten lassen und diese nicht marginalisieren. Die ebenfalls mögliche und m.E. vorzuziehende Alternative wäre, daß sich die Naturwissenschatt erkenntnistheoretisch darüber verständigt, daß der naturwissenschaftlich zu bedenkende Bereich lediglich einen Ausschnitt aus dem Gesamtbereich des Wirklichen darstellt. Realität im umfassenden Sinne beinhaltet demgegenüber immer naturale Phänomene auf der einen und Sinn- und Wertphänomene auf der anderen Seite. Dementsprechend wäre die Frage nach Anfang und Ende der Welt jedenfalls so zu beantworten, daß die Ermöglichung von Sinnphänomenen integraler Bestandteil einer Theorie über den Anfang der Welt und die Bewahrung sinnhaft gelebten Lebens integraler Bestandteil einer Theorie über das Ende der Welt sein müßte. Letzteres macht deutlich, daß die christliche Eschatologie einen wesentlichen Beitrag zu einer das Gesamtspektrum der Realität bedenkenden Theoriebildung über das Ende der Welt leistet.