Hermann Hafner: Zum Begriff der Rationalität


  1. Einen klassischen Begriff von Rationalität könnte man vielleicht folgendermaßen umreißen:
    Formal ist damit ein Denken gemeint, das seine Inhalte (Bestandteile) nach allgemeingültigen Regeln verknüpft und dadurch einen für jedermann nachvollziehbaren gültigen Zusammenhang darstellt. In diesem Sinn zielt die Forderung nach Rationalität auf die nachvollziehbare Begründung bzw. die allgemeine Überprüfbarkeit jeder Behauptung.
    Zum Handwerkszeug rationalen Denkens gehören darum klar und scharf umrissene Begriffe (Definition), klare Verknüpfungsregeln für Begriffe und Sätze (Logik, Beweislehre); das Ziel und Interesse liegt in der Gewinnung allgemeingültiger Sätze [Erkenntnisse].
    Wenn man damit das Postulat exakter Messungen und mathematischer Verknüpfung der gewonnenen Daten verbindet, hat man das Ideal neuzeitlicher Wissenschaft als Inbegriff der Rationalität vor sich.
  2. Nachdem durch die neueren erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Entwicklungen das Vertrauen in die objektiven Erkenntnisleistungen von Vernunft und Wissenschaft problematisiert ist, ist der Rationalitätsbegriff in der gegenwärtigen Diskussion eher diffus und unscharf: welche Rationalitätskriterien für menschliches Verhalten (einschließlich des kognitiven Verhaltens) gelten sollen, ist Gegenstand theoretischer Untersuchung in unterschiedlichen Zusammenhängen. Ein zugrundeliegender einheitlicher Begriff von Rationalität ist dabei schwer auszumachen, es sei denn, man versucht es mit der Gleichung: rational = erfolgreich/erfolgversprechend; das aber hat mit dem ursprünglichen Begriff nicht mehr viel zu tun.
  3. Gleichwohl hat die Forderung nach Rationalität nach wie vor einen hohen Stellenwert im wissenschaftlichen, philosophischen und z. T. auch im allgemeinen Bewußtsein, einen Stellenwert, der sich aus den alten Wurzeln dieses Begriffs nährt. Und vielfach gilt dabei -- unterschwellig oder ausdrücklich -- Religion und Glaube als zumindest aus dem Bereich des Rationalen grundsätzlich ausgeschlossen oder gar mit rationalem Denken unverträglich.
  4. Vielfach ist mit der Forderung nach Rationalität ein inhaltliches Moment verbunden: maximal die Anerkennung eines "rationalen (oder wissenschaftlichen) Weltbildes" oder zumindest gewisser Eckpfeiler eines solchen; bei der Einforderung solcher inhaltlicher Rationalitätsstandards wird vorausgesetzt, daß diese entweder ein unveräußerliches Ergebnis bisheriger rationaler Erkenntnisarbeit sind oder daß sie unerläßliche Voraussetzungen oder Rahmenbedingungen rationalen Denkens sind.
  5. Vom Ursprung her kann man zwei Grundmotive für das Interesse an Rationalität nennen:
    1. Wirklichkeit in ihrer (unveränderlichen) rationalen Struktur erkennen;
    2. eine entscheidbare Verständigung unter den Menschen erzielen (insbesondere, wenn die verbindende Geltung von Tradition wegbricht [Sokrates!] oder wenn die Tradition als Fessel abgestreift werden soll). --
      In der Wende zur Neuzeit bildet sich ein neuer, weiterer Akzent heraus:
    3. die Vernunft wird zum Exponenten der einzigartigen Freiheit und Selbstbezüglichkeit des Menschen. -- Freilich verbindet sich im neuzeitlichen Wissenschaftsglauben damit auf eigenartige Weise auch die gegenläufige Tendenz, den Menschen wie alle Dinge mechanistisch zu sehen und so seine Freiheit zu negieren. --
      Eine Variante zu a) ist der neuzeitliche Glaube an den Fortschritt der wissenschaftlichen Welterkenntnis; nach dem modernen Wegfall der Erkenntnisgewißheit bekommt diese Variante eine eigenständige Note:
    4. den zwar hinsichtlich seiner Gültigkeit nicht strikt begründbaren, aber sichtlich für die Menschheit erfolgreichen Weg des rationalen Denkens der Wissenschaft konsequent fortsetzen und auf alle Lebensbereiche übertragen (H. Albert, J. Monod).

Hermann Hafner: Christlicher Glaube vor dem Anspruch
wissenschaftlicher Rationalität

oder:
Was bedeutet Vernunft für den Glauben an Gott?
Was bedeutet der Glaube an Gott für die Vernunft?


  1. Die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft war zu allen Zeiten umstritten, sowohl zwischen Christen und Gegnern des Christentums als auch innerhalb der Christenheit.
    Das Spektrum der Positionen reicht von der
    • strikten Ablehnung des Glaubens im Namen des Alleinanspruchs von Vernunft und Wissenschaft über die
    • Bindung des Glaubens an die Grenzen der bloßen Vernunft und die
    • Indienstnahme der Vernunft für den Glauben bis hin zur
    • Zurückweisung jedes Anspruchs der Vernunft in Sachen des Glaubens (wobei man den Rahmen für die "Sachen des Glaubens" unterschiedlich weit abstecken kann).
  2. Trotz aller Einsicht in die Grenzen von Rationalität und Wissenschaft sind auch heute viele Vertreter eines rationalen und wissenschaftlichen Denkens davon überzeugt, daß ein Glaube an Gott (oder gar ein Glaube an Wunder) in einem rationalen Denken keinen Platz hat und letztlich mit einer konsequenten Entscheidung zur Rationalität nicht vereinbar ist.
  3. Auch von christlicher Seite wird nicht selten genau die gleiche Überzeugung geltend gemacht, nur in umgekehrter Bewertung: der Glaube habe nichts, aber auch gar nichts mit rationalem Denken zu tun; er stehe diesem gegenüber auf einem gänzlich eigenen Boden.
    Eine solche Position kann in unterschiedlicher Weise durchgeführt werden:
    1. Der Glaube hat einfach anzunehmen, was Gottes Wort sagt. Wie das in unsere rationalen Wissensgebiete paßt, ist unerheblich; entgegenstehende Überlegungen oder wissenschaftliche Ergebnisse sind abzulehnen. Den Inhalten der Bibel und der Glaubenslehre wird somit ein Sonderstatus zuerkannt, kraft dessen sie rationales Wissen jederzeit durchkreuzen können (die "fundamentalistische" Variante).
    2. Der Glaube hat es mit Dingen zu tun, die absolut jenseits der Reichweite rationaler Erkenntnis liegen; darum kann er in keiner Weise die rationalen Erkenntnisse tangieren. Glaubensaussagen sind darum so zu verstehen und zu fassen, daß jede Kollision mit wissenschaftlicher Erkenntnis und jede Vermengung mit innerweltlichem Faktenwissen vermieden wird (die "liberale" Variante, ein verbreiteter Strang apologetischen Denkens in der protestantischen Theologie von Schleiermacher bis Bultmann und darüber hinaus).
  4. Auch die aus dem Mittelalter stammende These von einer "doppelten Wahrheit" ("es gibt Sätze, die in der Theologie zwar falsch, in der Philosophie aber wahr sind" -- in neuerer Zeit aber wohl eher umgekehrt: "es gibt Sachverhalte, die in der Wissenschaft unmöglich, für den Glauben aber Tatsache sind") setzt Vernunft und Glaube einander entgegen und versucht eine Entkoppelung, die jedem der beiden "Gebiete" (insbesondere dem jeweils bedrängten) seine Autonomie sichern soll. Da der Mensch jedoch sein Leben nicht in zwei autonome Hälften zerhacken kann, kann er zwar mit intellektuellen Spannungen, aber nicht mit zwei gegensätzlichen Wahrheiten leben ("entweder er wird die eine hassen und die andere lieben, oder er wird an der einen hängen und die andere verachten" ... -- Mt 6,24).
  5. Das vom Mittelalter auf uns gekommene Stufen- und Zuordnungsschema "Vernunft/Offenbarung", "Natur/Gnade" bzw. "Natur/Übernatur" ist ein theologisch-philosophischer Versuch, Ordnung in diese spannungsgeladene Beziehung zu bringen und dadurch eine positive Verknüpfung zu erreichen und Konflikte zu vermeiden. Dieser Regulierungsversuch kann zwar bedingt an gewisse biblische Vorgaben anknüpfen, er bleibt aber durch die Notwendigkeit wechselseitiger Rücksichten stets problembeladen und damit konfliktträchtig.
    Die heruntergekommene moderne Weiterführung dieses Stufenschemas, nämlich die Vernunft als die für alle verbindliche Grundlage und den Glauben als eine beliebige subjektive Zutat dazu anzusehen, läuft letztlich auf eine Negierung der Glaubenswahrheit hinaus.
  6. Das Kernproblem der Beziehung von Vernunft und Glaube läßt sich dahingehend kennzeichnen, daß hier zwei völlig eigenständige Traditionen aufeinandertreffen, deren jede auf den ganzen Menschen, auf sein ganzes Denken und sein ganzes Leben zielt. Dabei ist keine der beiden Traditionen "naturgegeben". Das philosophische Denken der Griechen hebt sich bewußt von den Alltagsmeinungen und dem Alltagsdenken der Menschen ab, um diese durch sich selbst zu ersetzen -- sogar von der "Umkehr der Seele vom Werden zum Sein und zur Wahrheit" ist da die Rede (Plato: Politeia 525c). Der Kern- und Angelpunkt der christlichen Botschaft andererseits hat es zu tun mit der "(Bekehrung) zu Gott von den Abgöttern, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott" (1. Thess. 1,9). Ein einfaches Zurückschrauben des umfassenden und ganzheitlichen Anspruchs kann insofern von keiner der beiden Seiten erwartet werden.
  7. Einen entscheidenden Treffpunkt bildet freilich der beiderseitige Ernst, einzig der Wahrheit zu folgen, zusammen mit der Tatsache, daß -- bei allen gravierenden Differenzen im Wahrheitsverständnis! -- die Erkenntnis der Wahrheit beiderseits einen offenen Charakter hat. Jeder Versuch, beide Traditionen aufeinander zu beziehen, konnte und kann nur hier ansetzen.
  8. Dieser Treffpunkt in der Wahrheitsfrage ist es zugleich, der das Christentum (trotz aller andersdenkenden Christen) letztlich daran hindert, sich vor der Wahrheitsfrage und dem Wahrheitsanspruch des rationalen Denkens und der Wissenschaft grundsätzlich zu verschließen. Sofern es hier tatsächlich um Wahrheit geht (und nur insofern!), steht der Christ hier vor einem Anspruch, den er nicht aus Gründen des Glaubens abweisen kann.
  9. Hierin liegt die Bedeutung der Vernunft für den christlichen Glauben: der Glaube muß und kann zwar nicht dem Anspruch der Vernunft unterworfen werden, aber er muß sich in einem ehrlichen Eingehen auf einen ehrlichen Anspruch der Vernunft am vernünftigen Denken bewähren. Wo er sich dieser Herausforderung zu öffentlichem Standhalten entzieht, läuft er Gefahr, Gott, den Vater Jesu Christi, nicht mehr als Schöpfer und Herrn der Welt und damit nicht mehr als den lebendigen und wahren Gott sehen und verkünden zu können.
  10. Ob man auch umgekehrt dem Glauben eine (legitime und positive!) Bedeutung für die Vernunft zuzusprechen bereit ist, läßt sich konkret in die Frage fassen, wie man über den Zusammenhang von Vernunft und Bekehrung denkt. Wer der Vernunfterkenntnis (unter Berufung auf ihre Allgemeingültigkeit und formale Stringenz) jedes Betroffensein von einer solchen Hinwendung des Menschen zu Gott abspricht, wird dem Glauben keinerlei Bedeutung für die Vernunft zusprechen können und wollen. Unter diesem Vorzeichen stoßen sich Vernunft (als Fundierung des Lebens und Denkens im Allgemeinen) und Glaube (als Fundierung des Lebens und Denkens in einem besonderen Geschehen) zwangsläufig ab.
  11. Eine wirkliche Bedeutung des Glaubens für die Vernunft gibt es nur insoweit, als die Vernunft in die Bewegung des Glaubens, in die Öffnung des Menschen für Gott, hineingenommen wird. Ob es sich dabei um eine Vereinnahmung und Verfälschung vernünftigen Denkens oder um eine positive Freisetzung seines Potentials handelt, wird man daran ablesen können, inwieweit die Eigenständigkeit, das eigene Profil und die kritische Kraft des vernünftigen Denkens gewahrt bleibt und unterstützt wird.
  12. Jede solche Verbindung von Glaube und Vernunft wird stets umstritten bleiben. Sie ist nicht als Beruhigungspille für den Christen zu haben, sondern nur in der lebendigen Auseinandersetzung um das Zeugnis des Glaubens in der Welt. In dieser Auseinandersetzung hat die Christenheit aber nicht ihrem Eigeninteresse zu dienen, sondern allein der Wahrheit.