Ulrich Beuttler, Simmozheim

 

Das neuzeitliche Naturverständnis und seine Folgen

 

 

 

1.         EInleitung: Natur im gegenwärtigen Kontext           

 

Natur kommt gegenwärtig vor allem in zwei Zusammenhängen vor, nämlich als Naturwissenschaft und als Naturschutz oder Umweltschutz. Beide Kontexte sind in gewissem Maß Gegenbewegungen. Die Naturwissenschaften sind „der harte Kern der Neuzeit“ (C. F. v. Weizsäcker). Sie prägen und charakterisieren die Neuzeit überhaupt. Seit 30 Jahren aber wird deutlich, dass der durch die Naturwissenschaften geprägte Umgang mit der Natur zu einer ökologischen Krise geführt hat, die man ohne Übertreibung die „Überlebenskrise“ (G. Altner) der Menschheit nennen kann. Daraus entsteht die dringliche Frage: Gibt es Alternativen zur gängigen Naturwissenschaft und Technik mit einem anderen Umgang mit der Natur, die aus der Krise heraushelfcn oder zumindest das Überleben sichern?

 

2.         Das neuzeitliche Naturverständnis vor dem Hintergrund des vorneuzeitlichen        

 

Das antik-mittelalterliche Verständnis von griech. physis, lat. natura ist zum einen ein Wertbegriff. Natur ist das wahre Wesen einer Sache. Deshalb fordert die Stoa, kata physin, naturgemäß, der Ordnung der Natur entsprechend, zu leben. Physis ist aber auch die Natur als Gegenstand. Anders als heute aber kennt die Antike nur einen organischen Naturbegriff. Die Natur ist quasipersonal als Wesen verstanden, das entsteht, wächst und wieder vergeht. Der Mensch ist dahinein eingebunden. Die Natur ist beseelt und immer zielbestimmt ausgerichtet auf die Bewegung des Wachsens und Entstehens (Entelechiegedanke von Aristoteles).

 

Im Laufe der Neuzeit treten nun Wert- und Gegenstandsbegriff auseinander. Den Gegenstand Natur erforscht fortan die Naturwissenschaft und findet darin objektive Naturgesetze. Das Wesen der Dinge, ihr Wert und Sinn findet nur noch in der Geisteswissenschaft Beachtung.

 

3.         Descartes Unterscheidung zwischen Geist und Natur     

 

Die Unterscheidung zwischen Wesen und Gegenstand wird bei Descartes deutlich als neue metaphysische Grundunterscheidung zwischen Subjekt und Objekt oder Geist und Natur.

 

Die res cogitans ist als denkendes Ich, als cogito ergo sum, das fundamentum inconcussum, auf das die Welt begründet wird, das subjectum = griech. hypokeimenon, das Zugrundeliegende.

 

Die Welt der res extensa bekommt ihre Realität durch das denkende Ich, so dass die res extensae als die Objekte durch die res cogitans als das Subjekt konstituiert sind. Erst mit dieser Unterscheidung von denkendem Subjekt und ausgedehntem Objekt wird Naturwissenschaft im neuzeitlichen Sinne möglich. In der Folge aber treten res cogitans und res extensae, die bei Descartes noch konstitutiv über den Gottesgedanken vermittelt sind, welcher sichert, dass die Dinge keine Täuschung sind, unverbunden auseinander. Die Welt zerbricht in eine geistlose Natur und einen naturlosen Geist.

 

4.         Die Natur als Objekt, der Mensch als Subjekt, die Welt als Bild (Heidegger)   

 

Mit der Trennung von denkendem Subjekt und ausgedehntem Objekt wird die Natur zum Objekt und der Mensch verliert die Zugehörigkeit zur Natur. Er steht ihr unvermittelt gegenüber. Zugleich hat die zum Objekt gewordene Natur ihr Maß entweder in sich selbst, so dass Naturwissenschaft objektivistisch und materialistisch wird, oder sie erhält ihren Maßstab der Wahrheit allein aus dem Bewusstsein des denkenden Ich, das zur subjektivistischen Letztbegründung des Seins wird. Auf jeden Fall geht der Gedanke verloren, dass ein gemeinsames Maß für Mensch und Natur weder aus dem einen noch aus dem anderen abgeleitet, sondern auf einen Ursprung außerhalb, nämlich auf Gott, zurückgeführt werden muss.

 

In der gott- und geistlosen Natur der neuzeitlichen Naturwissenschaft aber kommen weder der Mensch noch Gott noch vor.

 

5.         Charakterisierung der neuzeitlichen Naturwissenschaft  

 

a) Methodisch geleitete Wissenschaft

 

Descartes kehrt sich ab von der aristotelischen teleologischen Naturbetrachtung. Er fragt nicht mehr nach dem Ziel der Dinge, sondern nur noch nach der Sache selbst und ihren zurückliegenden Ursachen. Dementsprechend definiert sich die neuzeitliche Wissenschaft nicht mehr durch die Resultate, sondern durch die Methode, also durch den Weg, auf dem Erkenntnis erlangt wird. Nach Descartes ist, um zu wahrer Erkenntnis, d. h. zu gewissem und zuverlässigem Wissen zu gelangen, allein die richtige Methode anzuwenden.

 

b) Deduktion und Induktion

 

Die Methoden, die von Descartes, Galilei und Bacon entwickelt werden, sind die Analyse, also die Zerlegung eines Problems in einzelne lösbare Teile, und die Synthese, das Zusammensetzen der Einzellösungen zur komplexen Gesamtlösung. Letztere kann über die Methode der Induktion, den Schluss von Einzelergebnissen auf ein allgemeines Gesetz, oder der Deduktion, also den Schluss vom Allgemeinen auf das Einzelne, gelingen.

 

c) Quantifizierung

 

Galilei löst die qualitative Fragestellung des Aristoteles „Was ist ...?“, die eine allgemeine metaphysisch-ontologische Frage ist, ab durch die quantitative Frage „Wie geht ...?“. Die Frage nach der Quantität ist speziell und funktional. Die Wesensfrage wird durch die funktional-quantitative Frage ersetzt. Darin ist der Erfolg der neuzeitlichen Naturwissenschaft begründet.

 

d) Maßwissenschaft

 

Durch die Methode bestimmt, wird neuzeitliche Naturwissenschaft zur Maßwissenschaft. Denn in allen Messmethoden werden Maßstäbe angelegt. Dadurch betrachtet Naturwissenschaft aber nicht Natur an sich, sondern es wird etwas zwischen das unmittelbar Gegebene und den Betrachter geschoben, nämlich eine Methode, eine Frage, ein Maßstab. Der Gegenstand der Naturwissenschaft ist eine „präparierte Natur“. Es gibt keine bloßen Tatsachen. Das zu Messende reagiert auf den Maßstab und verändert sich durch die Messung, wie die Analyse des Messprozesses durch die Quantenmechanik zeigt.

 

e) Mathematisierung

 

Durch das Anlegen von Maßstäben entsteht ein „mathematischer Entwurf der Natur“ (Heidegger). Entscheidend bei der Mathematisierung ist aber nicht so sehr das Messen selbst, sondern der Akt des Entschlusses, den Maßstab anzulegen. Dies bedeutet eine Änderung der Haltung des erkennenwollenden Intellekts dem Gegenstand gegenüber. Die Differenz zwischen der neuzeitlichen und der vorneuzeitlichen Naturwissenschaft ist eine erkenntnistheoretische.

 

f) Das Experiment

 

Deutlich wird dies in Immanuel Kants Analyse des Experiments. Der neuzeitliche Experimentator hat keine rezeptiv-wiedererkennende Erkenntnishaltung. Statt der Rolle des Schülers hat der naturerkennende Mensch die Rolle des Richters und die Natur die des Angeklagten. Der Naturforscher richtet sich nicht nach der Natur, sondern die Natur bat sich nach ihm zu richten. Dies kommt einer „Revolution der Denkart“ gleich.

 

g) Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnis

 

Der Mensch als Maßstab und Richtschnur der Naturerkenntnis ist der „Herr und Besitzer der Natur“ (Descartes), der nach Willkür mit ihr verfahren kann. Es ist eine „inquisitorische Erkenntnissituation“ (G. Altner). Der Natur werden auf der „Folterbank des Experiments ihre Geheimnisse abgepresst“ (Bacon). Dadurch entsteht eine Entsinnlichung des Mensch-Natur-Verhältnisses. Durch den Subjekt-Objekt-Dualismus in der Erkenninisstruktur ist eine Ethik a priori ausgeschlossen. Aber: „Eine Wissenschaft, die die Natur zerstört, kann keine Erkenntnis der Natur sein“ (G.Picht).

 

6.         Gegenentwurf: Die „andere“ Naturwissenschaft   

 

Allen Entwürfen einer anderen Naturwissenschaft ist gemeinsam, dass sie den Dualismus von Geist und Natur überwinden wollen. Die Natur soll nicht als Objekt, sondern als sich entwickelndes Subjekt verstanden werden, und der Mensch soll als Teil der Natur eingebunden sein in die Naturbetracbtung. Kurze Beispiele mit Problemanzeige (Spinoza, Romantik, New Age).